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FRÜHSTÜCK ÜBER SCHWARZEN RABEN

Das 1. Kapitel

The west is the best, tönte Jim Morrison aus dem Radio. Eine Stimme, so versoffen und stoned wie ein halbes Dutzend Junkies. Kaputt, schmutzig, krank. Und irgendwie geil. Doch, wirklich, sehr geil sogar, so idealgeil wie man selbst oft gern wäre, lässig verkatert am Türrahmen lehnend, die Fluppe im Maul, Hemd offen, schamanische Kettchen um den Hals, krauses, zerzaustes Haar, zwei Frauenarme, die sich von hinten um einen rumschlingen, dürr, blass, mit Spermaspuren zwischen den Fingern. So einer wäre man gerne, morgens beim Aufwachen, wenn der Wecker klingelt und der Alltag beginnt. Der Alltag mit seinem langweiligen Duktus, tak-tak-tak, die Eisenbahn, oder so. Monoton dahinplätschernd das Leben, unbegabt sich des Carpe Diems entledigend, Beschäftigung suchend, und sei es auch nur die tägliche Maloche.

Moloch Berlin. Robotermenschen laufen handygesteuert durch Straßen, die, wie geleckt, nur noch entfernt an DDR und Grau erinnern. Als hätte es das nie gegeben. The west is the best. Consumerism forever! Und Capitalism, juchee! Tak-tak-tak, klickt und klackt das Geld von einer Börse in die nächste, klingen Kassen kurz und hart. Neue Schönhauser, Ecke Rosenthaler. Paar Meter rein, am ehemaligen Café Schwarzenraben, in dem heute ein Modelabel sitzt. Dort ungefähr, wo einst einmal Häuser besetzt waren, von echten Revolutionären, revolutionieren heute digitale Geschäftsmodelle die Welt, sitzen Agenturen und Startups und Szene-Muggels und dengeln in Echtzeit an der Zukunft rum. Inmitten des Lärms, und mittlerweile kaum noch bezahlbar, eine Dachgeschoss-Wohnung, 65 Quadratmeter, mit Sonnenterrasse und Alexanderplatz-Blick. Dort zoomt unser ethnografischer Blick nun hin, teilnahmsvoll beobachtend, das Objekt unseres heutigen In-Vitro-Studiums: Marco Pohler, der, unfreiwillig verballhornt, sich gerade ein Marmeladen-brötchen schmiert. Ihm gegenüber, noch blass vom Abend und der allzu kurzen Nacht, Tullia Weinert, ihren Milchkaffee schlürfend.


– Noch ein Ei?
– Nein, danke, bin satt.
– Und du?
– Mal seh’n. Erstmal ’ne Fluppe.


Darauf kann man sich einigen. Das geht immer. Auch dann, wenn man sich künstlich zu nah war und jetzt nach Separierung lechzt. Wenn der andere noch da ist, obwohl er schon längst hätte gegangen sein sollen. Ne Fluppe geht immer. Das schafft Platz im Magen und visualisiert subtil und ephemer den Raum zwischen den scheinbar harmonisch miteinander Rauchenden. Wo eben noch ein schwer abzuschätzendes Nichts war, ist plötzlich ein fluid dahinwaberndes Etwas, immerhin. Es markiert zwei Grenzen, die Konturen von einem selbst und seinem Gegenüber, sei es auch noch so begehrlich und begehrenswert. Doch Grenzen sind gut nach einer übereilten Verschmelzung. So auch hier, zwischen samtig verstaubten Bierflaschen und eifrig vernachlässigtem Topfunkraut.

– Marco, richtig? Wie denn noch?
– Wieso? Willst du wissen, ob du meinen Namen annimmst, falls wir heiraten?
Tullia lacht. Kurz auf. Dann wieder ein Zug an der Kippe. Ein Grinsen, das bleibt.
– Nee, einfach nur so.
– Pohler.
– Marco… Pohler? Das is’n Scherz!
– Leider nein!
– Was haben sich deine Eltern denn bitte dabei gedacht? Marco Pohler, ts…
– Bist nicht die Erste, die das dämlich findet.
– Naja, dämlich. Is’n hartes Wort. Aber trifft es irgendwie, ja, doch.
Paffen. Auf’n Alex gaffen. Mit langen Hälsen. Wie zwei Giraffen.
– Das ist so wie… James Bonk oder Giletto Contouri.
– Jepp.
– Yep.
– Und du? Tullia Who?
– Tullia W. Wie Weinert.
– Bombe. Geht runter wie Sahnelikör. Weinert. Wow.
– Yep. Nicht gerade der Burner. Ich weiß.
– Ts… Dachte gerade, jemand würde nen Roman schreiben und die Hauptfiguren sitzen auf ner Dachterrasse am Alex und heißen Marco Pohler und Tullia Weinert. Das Buch würde ich sofort wieder ins Regal stellen.
– Wieso? Es gibt ja auch Menschen, die Roswitha oder Manfred heißen. Es zeigt doch nur, dass sich unsere Eltern was dabei gedacht haben. Dass es ihnen nicht egal war, wie wir heißen. Dass sie ein Augenzwinkern in deinen Namen gelegt haben. Und in meinen ein bisschen Extravanz. Man sagt doch, dass Namen Schicksal sind… Kann ja schließlich nicht jeder Moshe Bryant oder April Weird heißen. Zum Beispiel.
– Das waren jetzt sicher fünf Zeilen gesprochener Text in dem Roman über Marco Pohler und Tullia Weinert. So viel hast du gestern den ganzen Abend nicht gesagt!
– War das ein Smiley am Ende deines Tweets? Oder willst du einfach nur gemein sein?
– Ja. Nein.
Paffen. Auf’n Alex gaffen. Zwei schlaffe Giraffen beim Schlaraffenland-Schaffen.

– Worum würde es denn in einem Roman über Marco Pohler und Tullia Weinert gehen, wenn es einen solchen geben würde?
– Na ja, Liebe und Sex natürlich. (Grinsen) Und dann die großen Themen des Lebens vielleicht. Also, hmhm, Fußball, schnelle Autos, Steuerschlupflöcher, Digitalisierung… Und der ganze andere Abfuck, der gerade auf uns zurollt.
– Welcher Abfuck rollt denn gerade auf uns zu?
– Na, Klimawandel, Artensterben, Automatisierung, Urbanisierung… Wusstest du, dass am Ende des 21. Jahrhunderts bis zu 75 Prozent der bis dann womöglich 9 oder 10 Milliarden Menschen in Städten wohnen werden? Das ist doch gruselig!
– Aber du wohnst doch selbst in einer Stadt. Findest du Berlin gruselig?
– Berlin? Nein. Aber Berlin ist ja auch nur ne kleine Nummer im Vergleich mit Megacities wie Tokio, Chongqing, Mexiko City oder Sao Paolo. Da geht es ganz anders zu als im guten alten beschaulichen Berlin. Außerdem glaube ich stehen wir erst am Anfang der richtig großen Scheiße. Nicht, dass ich Pessimist wäre. Aber es behagt mir immer weniger, was sich derzeit zusammenbraut.
– Vielleicht bist du ja doch Pessimist…?
– Nein, wohl eher Nostalgiker. Ich hab einfach das Gefühl, dass sich die Welt schneller verändert, als ich selber hinterherkomme. Und dass vieles in die falsche Richtung geht, obwohl vordergründig eigentlich alles Mögliche in die richtige Richtung geht. Irgendwie kommt es mir so vor, als gingen vor allem Nebensächlichkeiten in die richtige Richtung, während die wirklich wichtigen Sachen total abfucken.
– Klingt nach einem traurigen Roman. Können wir nicht was Schöneres über uns schreiben?
– Was denn? Summertime, magic, eternal love…?
– Nein, so platt nun auch wieder nicht.
Paffen. Gaffen. Kurz aufraffen. Wieder abschlaffen. Wie Menschenaffen beim Anschaffen.
– Vielleicht eine kleine, private Utopie inmitten der allgemeinen Dystopie. Vielleicht ein klitzekleines, ganz unwahrscheinliches Glück ohne Glamour und Special Effects.
– Lohnt es sich, sowas zu schreiben? Ist das nicht die Wirklichkeit von 99 Prozent der Leute?
– Du immer mit deinen Prozentzahlen!
– Nein, im Ernst. Will das jemand lesen? Holt das irgendeinen hinterm Ofen hervor? Und was noch schlimmer ist: Ist das nicht allerschlimmste Verschwendung? Etwas zu erzählen, das banal und trivial ist, anstatt die Zeit zu nutzen, um etwas (Trommelwirbel) zu bewirken?
– Kann denn nur etwas Negatives, Dystopisches, etwas bewirken? Muss ich ständig sagen, hey Leute, wenn wir so weitermachen, sind wir bald alle am Arsch? Oder kann ich auch ohne großes Trara einfach was anders und besser machen? Brauchst du die große Bühne dafür? Ist dein Leben sonst nichts wert?
– Du redest wie meine Ex.
– Na ja, wenn du ihr das gleiche erzählt hast wie mir…
– Aber ist das denn nicht die zentrale Frage: Wie bedeutsam ein Leben ist? Was es bewirkt? Wärst du nicht lieber eine große Nummer als ein Niemand?
– Nur weil ich keine große Nummer bin, bin ich doch kein Niemand. Und es gibt eine Menge Leute, denen ich beileibe nicht egal bin.
– Ja, sorry. War nicht so gemeint. Magst du noch einen Kaffee?

Marco war jetzt wieder in seinen Gedanken. Wie Spiralen drehten sich diese um die immergleichen Themen. Anspruch versus Wirklichkeit, Utopie versus Dystopie, Hybris versus Selbstverachtung, Wollen versus Können… Sein oder Nichts-Sein… Erst Hysterie, Genialität und Omnipotenz, dann Depression, Charakterschwäche und Kondolenz. Oder wie sein Vater, der alte Sponti, zu sagen pflegte: Erst schwach anfangen und dann ganz stark nachlassen. A mind between extremes, the gutter and the Ritz.

Marco und Tullia also. Was wäre wenn? Wenn beide Romanfiguren wären: Was müssten sie tun, damit irgendjemand sie lesen möchte? Und wenn sie echt wären: Was würde passieren, wenn sich zwei, die sich gerade frisch und übereilt kennengelernt haben, feststellen müssten, dass da mehr ist als was für eine Nacht nur reicht. Dass es für Wochen reichte und Monate und Jahre vielleicht, für Kinder und Enkelkinder, Katzen und Hunde, Meerschweinchen und Haushaltsroboter, eine gemeinsame Wohnung in der Stadt und ein Ferienhaus auf dem Land, für einen Familien-Van und einen 911er Porsche, für Joggen im Park und Schwitzen beim Clubbing, für einen Seitensprung ohne Konsequenzen und einen weiteren mit, für Anti-Falten-Creme und Hämorrhoiden-Salbe, für Dick und für Doof und für Siegfried und Roy, für ein Lächeln jeden Morgen und einen Kuss zur Nacht, für Streptokokken und Noro-Viren, für seinen Herzinfarkt und ihre Altersdemenz, für Haarausfall und dritte Zähne, davor Leidenschaft pur und hormonelles Glück satt. Für ein Leben zu zweit also. Mit Hochs und mit Tiefs, mit Lachen und Weinen, mit Phasen des Glücks und mit Phasen des Zwists, mit Aufstieg und Abstieg, mit Glanz und mit Gloria und 1000 Gemeinheiten, Kränkungen und Verletzungen dazwischen. Für ein veritables Paarleben also. Wie wäre das, wenn…

– Hier bitte, dein Kaffee. Wäre schön, wenn du bleibst!
– Wie meinst du das – bleiben? Noch eine Stunde oder ein Leben lang?
– Ein Leben lang, Tullia Weinert!
– Was, lebenslänglich mit dir? Was hab ich denn verbrochen?
– Nicht ver-, ge-brochen hast du: mein Herz!
– Ist das von Shakespeare oder von dir?

Marco spürt, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, Tullia ernsthaft zu küssen. Also tut er es, in Pohlerscher Manier: erst wild und ungestüm, dann zart, ihren Kopf in Händen haltend. Und weil das alles etwas dauert, fangen wir derweil ein neues Kapitel an...